Bezeichnung: Fragebögen der Pfarrämter 1945
Zeitraum: Oktober 1945 bis März 1946
Umfang: 1 Karton
Provenienz: Sonderbestand - Fragebogenaktion des NÖ Landesarchivs
Bestandsschwerpunkte: Kriegsende Zweiter Weltkrieg, Rote Armee, Militärgeschichte,
Nationalsozialisten, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, Sicherheitsverhältnisse, Gesundheit,
Rüstungsbetriebe, Übergriffe, Besatzungsverwaltung
Bestandsgeschichte: Die Anlegung dieses Bestandes geht auf eine Initiative des Lehrers,
späteren Landes-schulinspektors für die landwirtschaftlichen Berufsschulen und profilierten
Heimatforschers Josef Buchinger (1899-1977) aus Ratzersdorf bei St. Pölten zurück.
Sein Bestreben war es, durch eine an sämtliche Pfarren und Grundschulen Niederösterreichs
gerichtete Fragebogenaktion die Erinnerungen an die lokalen Ereignisse zu Kriegsende
gewissermaßen flächendeckend zu sammeln, zu sichern und auszuwerten. Bereits im Sommer
1945 arbeitete er die 21 Punkte für den Fragebogen aus. Für die Durchführung der Aktion
gewann er die Unterstützung des NÖ Landesarchivs, des NÖ Landesschulrats und des Erzbischöflichen
Ordinariats in Wien.
Der Landesschulrat veröffentlichte den Fragebogen im Verordnungsblatt für den Dienstbereich
des Landesschulrates für Niederösterreich vom 1. November 1945 und ersuchte im Erlass
Nr. 35 im Wege der Bezirksschulräte die Schulleitungen um Mit-rbeit. Nach einiger
Zeit erlangte jedoch die sowjetische Besatzungsmacht Kenntnis von diesem Erlass und
verlangte dessen Rücknahme. Der Landesschulrat kam der Aufforderung zwar nach, doch
in der Zwischenzeit waren die meisten Fragebögen - laut Josef Buchinger waren es 331
Stück - bereits eingelangt. Obwohl in dem genannten Erlass davon die Rede ist, "das
gesamte Material dem Landesarchiv zur Bearbeitung [zu] übergeben", sind die Unterlagen
im NÖ Landesarchiv bis heute nicht aufgetaucht. Laut telefonischer Auskunft einer
Mitarbeiterin des NÖ Landesschulra-tes vom 3. Jänner 2007 befinden sich aber auch
dort keinerlei entsprechende Materialien.
Das Erzbischöfliche Ordinariat wiederum versandte auf Ersuchen des NÖ Landesarchivs
Anfang Oktober 1945 die Fragebögen an die Pfarrämter und ersuchte um kurze Beantwortung
sowie um Rücksendung an das Ordinariat. Begründet wurde das Ersuchen u.a. mit der
Feststellung, dass es vielfach die Priester gewesen seien, die "während der kritischen
Zeit unter schwersten Bedingungen in den ihnen anvertrauten Pfarren ausgehalten haben",
und diese vielfach die Einzigen seien, die eine "authentische Darstellung der Kriegsereignisse
zu geben vermögen." (NÖLA, Fragebögen Pfarrämter 1945, Mappe Begleitschreiben, Schreiben
des Erzbischöflichen Ordinari-ats an die hochw. Pfarrämter in Niederösterreich am
9. 10. 1945.) Die letzten ausgefüllten Fragebögen trafen im März 1946 im Ordinariat
ein und wurden danach dem NÖ Landesarchiv übergeben.
Bestandsbeschreibung: Der Bestand gibt Auskunft über die teils chaotischen Verhältnisse
in den Pfarrsprengeln von Niederösterreich zu Kriegsende und in der unmittelbaren
Nachkriegszeit. Das Material ist nach politischen Bezirken geordnet und recht lückenhaft.
343 Pfarrämter beteiligten sich laut Josef Buchinger an der Aktion, vorhanden sind
aber bloß 212 Fragebögen. Die Berichte der Bezirke Amstetten, Gmünd, Lilienfeld, Melk,
Scheibbs, Waidhofen/Thaya und Zwettl fehlen zur Gänze, die Bezirke Horn, Krems, St.
Pölten, Wien-Umgebung sind nur mit sehr wenigen Pfarren vertreten.
Die Bögen umfassen insgesamt 21 Fragen. Sie geben Auskunft über das Agieren der Sowjets,
der Deutschen Wehrmacht, der SS, der Flüchtlinge und ausländischen Zwangsarbeiter,
der dörflichen Eliten, der örtlichen Nationalsozialisten und der Zivilbevölkerung
zu Kriegsende. Ferner informieren sie über militärgeschichtliche Fragen auf der lokalen
Ebene wie etwa Zeitpunkt der Ankunft der Roten Armee, Front- und Kampfverläufe, Verluste
an Menschen und Material sowie über materielle Schäden im Ortsgebiet, über Fliegerangriffe
und das Vorhandensein von Rüstungsbetrieben in den jeweiligen Ortschaften.
Die Beantwortung durch die zuständigen Pfarrer ist von sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit
und Detailnähe. Manche der zurückgesandten Fragebögen umfassen mehrere Seiten, andere
wurden nur mit einigen knappen Bemerkungen pro Frage versehen. Insgesamt handelt es
sich um einen Bestand, der gemeinsam mit den Fragebögen der Gemeinden 1945, den Erinnerungsberichten
des NÖ Familienalbums (siehe Verzeichnis Nr. 90) und den Sicherheitsberichten (siehe
Verzeichnis Nr. 91) die Wochen des Kriegsendes zu jener Phase der niederösterreichischen
Zeitgeschichte macht, die quellenmäßig zu den am besten erschlossenen zählt.
Zur Schonung des Bestandes liegen die Fragebögen in Kopie für die Benützung vor.
Findmittel: Verzeichnis Fragebögen 1945, Nr. 67
Zitat: NÖ Landesarchiv (NÖLA), Fragebögen Pfarrämter 1945, Pfarramt Ort vom Datum.
Literatur: Josef Buchinger, Das Ende des 1000jährigen Reiches. Dokumentation über
das Kriegsgeschehen in der Heimat, 2 Bde., Wien 1971-1972.
Klaus Dieter Mulley, Grauen des "Alltags". Eindrücke aus dem Bezirk Gänserndorf 1945,
in: Ernst Bezemek, Josef Prinz (Hg.), Der Bezirk Gänserndorf 1945. Begleit-band zur
Ausstellung im Schloss Jedenspeigen 13. Mai bis 26. Oktober 1995, Horn 1995, S. 99-118.
Dr. Stefan Eminger